Befindest Du Dich im Zustand von Leiden, so überprüfe, welche innere Tendenz (kleśa) Dich dorthin geführt hat:
- Unwissenheit, dass Deine Essenz unberührbar und unverletzlich ist (avidyā),
- Identifikation mit Deinem Vergänglichem Ich (asmitā),
- Glaube daran, dass äußere Dinge notwendig sind, damit Du glücklich sein kannst (rāga)
- Glaube daran, dass äußere Dinge die Macht besitzen, Dich unglücklich zu machen (dveṣa) und
- Angst vor dem Tod (abhiniveśa).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Erläuterung zum modernen Transfer:
Im Grunde kannst Du immer, wenn Du Dich unglücklich oder leidend fühlst selbst fragen, welche der fünf leidverursachenden inneren Kräfte (kleśa) hier aktiv ist. Ohne Kleśa bist Du umgekehrt auch frei von Leiden. Oft hilft es schon zu benennen welche dieser leidverursachenden Kräfte Dein Leiden verursacht um diese Kraft zu schwächen. Du erlebst Dein Leiden dann aus einer anderen Perspektive und kannst Dich so besser aus diesem Zustand befreien.
Unwissenheit (avidyā | dv), Identifikation mit dem vergänglichem Ich (asmitā | dv), Glaube an bedingtes Glück (rāga | dv) oder bedingtes Leiden (dveṣa | dv) und ein Hängen am Leben (abhiniveśāḥ | nom pl) sind diese leidvollen inneren Tendenzen (kleśāḥ | nom pl).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Aus dem Vyāsa Bhāṣya:
Im Bhāṣya erfahren wir, dass die fünf leidverursachenden Kräfte (kleśa) im Grunde fünf Irrtümer sind. Diese Irrtümer verstärken die Ursache-Wirkungsbeziehung. Sie fördern sich gegenseitig und bringen Karma zum Reifen.
Undifferentiated-consciousness (avidyā) and the feeling-of-personality and passion and aversion and the will-to-live are the five 1 hindrances.
James Haughton Woods - 1914
1: | Many MSS omit pañca. |
Die fünf Kleça’s sind: Nichtwissen Egoismus, Liebe, Haß und Lebenshang.
Paul Deussen - 1908
The afflictions are ignorance, egotism, desire, aversion and tenacity (of Mundane existence).
James R. Ballantyne - 1852
Die leidvollen inneren Tendenzen (kleśa) wirst Du niemals völlig auflösen können. Doch sie können in unterschiedlicher Intensität in Dir wirksam sein:
- Schlummern sie, so fühlst Du Dich glücklich (prasupta).
- Sind sie schwach, so überwiegt in Deinem Leben das Glück (tanu).
- Manchmal fällst Du plötzlich von einem Moment des Glücks in einen des Leidens - und umgekehrt. Dies ist ein Zeichen von wechselnden leidvollen inneren Tendenzen (vicchinna).
- Befindest Du Dich im Zustand von Leiden, so erinnere Dich, dass die eigentliche Ursache nicht im Außen, sondern im Innen liegt. Eine der fünf inneren leidvollen Tendenzen beherrscht Dich in diesem Zustand vollständig (udārāṇām).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Unwissenheit (avidyā | nom sg) ist der Nährboden (kṣetram | nom sg) für die anderen (uttareṣām | gen pl) [Qualen (kleśa)]. [Diese können] latent (prasupta | dv), schwach (tanu | dv), wechselnd (vicchinna | dv) oder beständig (udārāṇām | gen pl) [sein].
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Aus dem Vyāsa Bhāṣya:
Undifferentiated-consciousness (avidyā) is the field for the others whether they be dormant or attenuated or intercepted or sustained.
James Haughton Woods - 1914
Das Nichtwissen (avidyâ) ist der Boden für die übrigen [vier], mögen sie nun schlummernd (latent), schwach, zwiespältig [unter einander] oder voll entwickelt sein.
Paul Deussen - 1908
Ignorance is the field of the others, whether they be dormant extenuated, intercepted or simple.
James R. Ballantyne - 1852
Deine zu Leiden führende Unwissenheit (avidyā) ist im Grunde eine Verwechslung:
- Du glaubst, etwas Vergängliches, z.B. Dein physischer Körper, oder eine Fertigkeit (anitya), wäre unvergänglich (nitya).
- Du glaubst, etwas Unreines, z.B. ein physisches Gut wie Geld (aśuci), besäße eine göttliche Heiligkeit (śuci).
- Du glaubst, etwas mit Leid behaftetes, z.B. ein flüchtiger Genuss wie eine Droge (duḥkha), würde Dich zu wahrem Glück führen (sukha).
- Du verwechselst Eigenschaften und Aspekte Deines vergänglichen Daseins (anātman) mit Deinem wahren, unveränderlichen Wesenskern (ātman).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Unwissenheit (avidyā | nom sg) ist die Vorstellung (khyātiḥ | nom sg) von Ewigem (nitya | dv), Reinem (śuci | dv), Glücklichem (sukha | dv) und Beseeltem (ātma | dv) in Vergänglichem (anitya | dv), Unreinem (aśuci | dv), Leidvollem (duḥkha | dv) und Unbeseeltem (anātmasu | loc pl).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Nichtwissen (avidyâ) ist die Auffassung des Nicht-Ewigen, Unreinen, Leidvollen und Nicht-Selbstes als ewig, rein, lustvoll und als das Selbst.
Paul Deussen - 1908
Ignorance (avidyā) is the notion that the uneternal, the impure, evil and what is not soul are (severally) eternal, pure, joy and soul.
James R. Ballantyne - 1852
The recognition of the permanent, of the pure, of pleasure, and of a self in what is impermanent, impure, pain, and notself is undifferentiated-consciousness.
James Haughton Woods - 1914
Wenn die Kraft des Wahrnehmens und des Wahrzunehmenden [sind] (dr̥g-darśana-śaktyoḥ | loc abs du) wie (iva) das Sein eine einzige Wesenheit (ekātmatā | nom sg) [ist dies] die Identifikation mit dem vergänglichen Ich (asmitā | nom sg).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Wenn die Identifikation mit Deinem vergänglichen Ich (asmitā) Dich beherrscht, dann glaubst Du, Deine wahre Natur wäre in Deinem vergänglichen Körper oder Geist zu finden. Doch im Grunde nimmt Deine wahre Natur nur wahr (dr̥g). Dieser vergängliche Körper und vergängliche Geist sind lediglich Projektionsflächen (darśana), durch die diese wahre Natur Erfahrungen sammeln kann.
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Egoismus (asmitâ) ist die Identifikation der Potenzen des Sehenden und des Sehens [des Purusha und des Innenorgans, bei welchem letztern Organ und Funktion nach Sâňkhya-Kârikâ 29: svâlakshaṇyam vṛttis trayasya, zusammenfallen.]
Paul Deussen - 1908
Egotism (asmitā) is the identifying of the power that sees with the power of seeing.
James R. Ballantyne - 1852
When the power of seeing and the power by which one sees have the appearance (iva) of being a single-self, [this is] the feeling-of-personality.
James Haughton Woods - 1914
Mit der Vorstellung von weltlichem Glück behaftet (sukhānuśayī | nom sg) [ist der Glaube an] bedingtes Glück (rāgaḥ | nom sg).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Glaubst Du, erst wenn eine äußere Bedingung sich einstellt, kannst Du glücklich sein (sukha)? Dann beherrscht Dich der Glaube an bedingtes Glück (ragha).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Auf Lust beruhend ist die Liebe.
Paul Deussen - 1908
Desire is what dwells on pleasure.
James R. Ballantyne - 1852
Passion is that which dwells 1 upon pleasure.
James Haughton Woods - 1914
1: | See gloss sukham anuçete viṣayīkaroti (Maṇiprabhā). Compare i. 11, p. 386 (Calc. ed.). See also Vācaspati‘s gloss (anukurvanti), p. 28117 (Calc. ed.), and the last words of the Bhāṣya on iv. 28 with Bālarāma‘s note. |
Mit der Vorstellung an weltliches Leid behaftet (duḥkāanuśayī | nom sg) [ist der Glaube an] bedingtes Leiden (dveṣaḥ | nom sg).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Glaubst Du, ein äußerer Umstand hat die Verantwortung, dass Du gerade unglücklich sein musst oder leidest (duḥkha)? Dann beherrscht Dich der Glaube an bedingtes Leiden (dveṣa).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Auf Schmerz beruhend ist der Haß.
Paul Deussen - 1908
Aversion is what dwells on pain.
James R. Ballantyne - 1852
Aversion <1 > is that which dwells upon pain.
James Haughton Woods - 1914
<1: Professor Deussen quotes most appositely Spinoza, Ethica iii. 13, Scholion, Amor nihil aliud est, quam laetitia concomitante idea causae externae; et odium nihil aliud, quam tristitia concomitante idea causae externae.
Lebenshang (abhiniveśaḥ | nom sg) basiert auf dem Selbsterhaltungstrieb (sva-rasa-vāhī | nom sg). Er ist auf diese Weise sogar (api tathāx) für den Gelehrten (viduṣaḥ | gen sg) gediehen (rūdḥaḥ | nom sg).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
x: | In der Textversion des Yoga Sūtra, die über die Krishnamarchaya Traditionslinie Verbreitung gefunden hat, heißt es samā, statt tathā. Der ganze Satz lautet dann: sva-rasa-vāhī viduṣo 'pi samā rūḍho 'bhiniveśaḥ Die entsprechende Übersetzung lautet dann: “Lebenshang basiert auf dem Selbsterhaltungstrieb. Sie ist sogar für den Gelehrten vollständig gediehen (samā rūḍhaḥ).” |
Todesangst (abhiniveśa) kommt ohne äußeren Auslöser. Sie kann sogar erfahrene Yogis bewegen und beherrschen.
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Die auch beim Weisen vorhandene, auf Selbstgeschmecktem [in einer frühern Geburt] beruhende (besser: vom Geschmack, Wohlgefallen an dem eigenen Selbst begleitete) Anhänglichkeit an den Leib ist der Lebenshang.
Paul Deussen - 1908
Continuant through its self-reproductive property, even on the part of the wise attachment to the body is ‘tenacity of life’.
James R. Ballantyne - 1852
The will-to-live (abhiniveça) sweeping on [by the force of] its own nature 1 exists in this form even in the wise.
James Haughton Woods - 1914
1: | See Ruyyaka : Alamkarasarvasva (Kāvyamālā 35), p. 554, interprets the word as meaning merely eo ipso or by its own nature. Compare Rāmānanda Yati in 1903, p. 307, vāsanā-āsaṅgaḥ svarasaḥ. |
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Gerald Kozian
at 22.12.2020Hallo Ronald,
Folgende Frage zum Text. Wozu sollte meine Wahre Natur Körper und Geist als Projektionsfläche für Erfahrungen nutzen? Wessen Erfahrungen? Ist damit gemeint, das die Wahre Natur sich nur [...] Hallo Ronald,
Folgende Frage zum Text. Wozu sollte meine Wahre Natur Körper und Geist als Projektionsfläche für Erfahrungen nutzen? Wessen Erfahrungen? Ist damit gemeint, das die Wahre Natur sich nur mit Hilfe von oder über Körper und Geist erkennen lässt?
Woher kommt der Antrieb, das ich meine wahre Natur erkennen will?
Woran erkenne ich, dass ich
meiner wahren Natur auf der Spur bin?
Was ist die wahre Natur?
Ich denke, dass sie für alle gleich sein muss. Nur jeder wird anderes sehen und meinen, das ist sie.
Wer ist überhaupt der in mir, der sucht?
Namaste
und schöne Weihnachten!
Gerald-
Hallo Gerald,
wau. Du stellst die großen Fragen, die die Yogis seit Jahrtausenden beschäftigen.
- In der Tat gab es hier schon viele verschiedene Antworten. Ich bin mir sicher Du wirst auch viele [...] Hallo Gerald,
wau. Du stellst die großen Fragen, die die Yogis seit Jahrtausenden beschäftigen.
- In der Tat gab es hier schon viele verschiedene Antworten. Ich bin mir sicher Du wirst auch viele für Dich passende finden.
In der Samkhya Philosophie bleibt die Entstehung der Schöpfung (Prakr̥ti) letztendlich ein großes Geheimnis. Die Schöpfung existiert und unsere Essenz kann sich schließlich selbst erfahren und wieder von ihr lösen.
Viel Freude beim Fragen stellen und Antworten finden wünscht Dir
Ronald
P.S.: Übrigens - In der Advanced Ausbildung diskutieren wir genau über diese Fragen sehr intensiv. -
Gerald Kozian
at 23.12.2020Hallo Ronald,
Vielen Dank für deine schnelle Antwort! Seid gestern lese ich wiederholt und mit großer Freude deine Mail und reflektiere über deren Inhalt. Du sagst, die Essenz kann sich selbst [...] Hallo Ronald,
Vielen Dank für deine schnelle Antwort! Seid gestern lese ich wiederholt und mit großer Freude deine Mail und reflektiere über deren Inhalt. Du sagst, die Essenz kann sich selbst erfahren. Dann ist es die Essenz, die mich antreibt. Das muss ich weiter auf mich wirken lassen.
Die Samkhya hatte ich noch nicht auf dem Schirm. Meine spirituelle Inspiration ziehe ich aus der Bhagavat gita und dem Yoga sutra und weiterer spiritueller Literatur. Ich werde mir die Samkhya anschauen.
Bis bald und vielen Dank!
Namaste
Gerald -
Hallo Gerald,
das Yoga Sutra ist letztendlich aus der Sankhya Perspektive geschrieben.
Ein tiefes Eintauchen wünscht Dir
Ronald Hallo Gerald,
das Yoga Sutra ist letztendlich aus der Sankhya Perspektive geschrieben.
Ein tiefes Eintauchen wünscht Dir
Ronald
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