Schließlich kannst Du Deine Sinne (indriya) von allen äußeren Objekten (svaviṣayā) zurückziehen. Dann bezieht sich Deine Wahrnehmung auf Deinen Geist (svarūpānukāra). Wenn Dein Geist dann allmählich Ruhe findet, so findet auch diese innere Wahrnehmung Ruhe. Diese Yogapraxis heißt Sinneskultivierung (pratyāhāra).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Wenn keine Verbindung mit dem betrachteten Objekt (svaviṣayāsaṁprayoge | loc abs sg) [besteht], [entsteht] Angleichung der eigenen Gestalt [der Sinne] (svarūpānukāraḥ | nom sg) an den inneren Wahrnehmungsraum (cittasya | gen sg). [Dies ist] wahrlich (iva) die Kultivierung (pratyāhāraḥ | nom sg) der Sinne (indriyāṇām | gen pl).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Vyāsa Bhāṣya 2.54
svaviṣayasaṃprayogābhāve cittasvarūpānukāra iveti, cittanirodhe cittavanniruddhānīndriyāṇi netarendriyajayavadupāyāntaram apekṣante.
When there is no conjunction with their own objects, the organs in imitation of the mind-stuff, as it is in itself, become, as it were, restricted. When the mind-stuff is restricted, like the mind-stuff they become restricted; and do not, like the subjugation of the senses, require any further aid.
James Haughton Woods - 1914
Wenn es keine Verbindung mit ihren eigenen Objekten gibt (svaviṣayasaṃprayogābhāve | loc sg), werden die Sinnesorgane (indriyāṇi | nom pl) in Nachahmung des inneren Wahrnehmungsraumes (cittasvarūpānukāra | gen sg), wie er an sich ist (iveti | adv), gleichsam eingeschränkt (cittavat-niruddhāṇi | nom pl). Wenn der innere Wahrnehmungsraum eingeschränkt ist (cittanirodhe | loc sg), werden sie wie der innere Wahrnehmungsraum (cittavat | nom pl) eingeschränkt (niruddhāni | nom pl); und benötigen nicht (na ... apekṣante | 3p pl pres), wie die Unterwerfung der Sinne (netrendriyajayavat | adv), irgendeine weitere Hilfe (upāyāntaram | acc sg).
yathā madhukararājaṃ makṣikā utpatantam anūtpatanti niviśamānam anu niviśante tathendriyāṇi cittanirodhe niruddhānīty eṣa pratyāhāraḥ. 2.54
Just as when the king-bee 1 flies up, the bees fly up after him; and when he settles down, they settle down after him. So when the mind-stuff is restricted, the organs are restricted. This then is the withdrawal of the senses.
James Haughton Woods - 1914
1: | Compare Praśna Up. ii. 4. Repeated below iii. 38. This is what we call queen-bee. |
So wie wenn die Königsbiene (madhukararājaṃ | acc sg) auffliegt (utpatantam | acc sg), fliegen die Bienen (makṣikāḥ | nom pl) ihr nach; und wenn er sich niederlässt (niviśamānam | acc sg), setzen sie sich ihm folgend (anu niviśante | 3p pl pres) nieder. So werden, wenn der innere Wahrnehmungsraum eingeschränkt ist (cittanirodhe | loc sg), die Sinnesorgane eingeschränkt (niruddhāni | nom pl). Dies ist dann der Rückzug der Sinne (pratyāhāraḥ | nom sg).
Vyāsa Bhāṣya Erläuterung
Freier übersetzt sagt der Bhāṣya folglich:
- Die Sinne heften sich an den Geist, wenn sie nicht mit äußeren Objekten beschäftigt werden.
- Wenn dann der Geist ruhig wird, dann sind folglich auch die Sinne ruhig.
So können die Sinne zur Ruhe kommen, ohne dass sie selbst kontrolliert werden müssen. Das ist eine ziemlich verblüffende Beschreibung. Denn entziehen wir uns den neuen Sinneseindrücken, z.B. indem wir uns zur Meditation setzen, so nehmen wir zunächst in voller Unruhe unseren inneren Wahrnehmungsraum mit seinem Denken und Fühlen wahr. Erst wenn dieser allmählich ruhig wird, wird die innere Wahrnehmung durch die Sinne auch ruhig.
Die Metapher mit der Königsbiene und dem Bienenvolk stammt aus der Praśna Upaniṣad., 2.4. Die Upaniṣad besteht aus 6 Fragen (praśna) und den jeweiligen Antworten dazu. Jede Frage wird in einem Kapitel aufgeführt und beantwortet. Auf diese Weise behandelt die Upaniṣad folgende Themen:
- Ursprung der Geschöpfe,
- Lebensatem,
- Atemfluss im Körper,
- Träume und traumloser Schlaf,
- Meditation auf die Silbe OM,
- sechszehn Teile des Menschen.
Die Königsbiene ist hier der Geist. Die Sinne sind das Bienenvolk, das der Königsbiene folgt. Sie kommen zur Ruhe, wenn der Geist zur Ruhe kommt.
The withdrawal of the senses is as it were the imitation of the mind-stuff itself on the part of the organs by disjoining themselves from their objects.
James Haughton Woods - 1914
Wenn die Sinnesorgane, unter Aufhebung ihrer Verbindung mit den ihnen entsprechenden Objekten, gleichsam die Natur des Chittam nachahmen, so ist dies das Einziehen der Organe.
Paul Deussen - 1908
‘Restraint’ is as it were the accommodation of the senses to the nature of the mind in the absence of concernment with each one’s own object.
James R. Ballantyne - 1852
Zurückziehen der Sinne (pratyāhāra) ist die höchste Kontrolle der Sinne (indriya).
Dr. Ronald Steiner - moderner Transfer
Dadurch (tataḥ) [entsteht] höchste Kontrolle (paramā vaśyatā) der Sinnesorgane (indriya).
Dr. Ronald Steiner - historisch-wörtlich
Vyāsa Bhāṣya zu 2.55
śabdādiṣv avyasanam indriyajaya iti kecit.
There are some who think (1.) that the mastery of the organs is a lack of desire for the various things sounds and so forth.
James Haughton Woods - 1914
Es gibt einige (kecit | nom pl), die denken, dass die Beherrschung der Organe (indriyajayaḥ | nom sg) ein Mangel an Verlangen (avyasanam | nom sg) für die verschiedenen Dinge, Klänge (śabdādiṣu | loc pl) und so weiter ist.
saktir vyasanaṃ vyasyaty enaṃ śreyasa iti.
Longing (vyasana) is attachment in the sense that it puts him a long way from (vy-asyati) a good.
James Haughton Woods - 1914
Sehnsucht (vyasanaṃ | nom sg) ist Anhaftung (saktiḥ | nom sg), in dem Sinne, dass sie ihn weit wegbringt (vy-asyati | 3p sg pres act) von einem Gut (śreyasaḥ | abl sg).
aviruddhā pratipattir nyāyyā.
2. [Others think that] unforbidden experience is legitimate.
James Haughton Woods - 1914
[Andere denken, dass] unverbotene (aviruddhā | nom sg f) Erfahrung (pratipattiḥ | nom sg f) legitim (nyāyyā | nom sg f) ist.
śabdādisaṃprayogaḥ svecchayety anye.
3. Others, that there may be conjunction [of the organs] with the [various things] sounds and so forth as one desires.
James Haughton Woods - 1914
Andere (anye | nom pl): „Es kann eine Verbindung (saṃprayogaḥ | nom sg) [der Organe] mit den [verschiedenen Dingen wie] Klängen usw. (śabdādiṣu | loc pl) geben, wie man es wünscht (svecchayā | instr sg).“ (iti)
rāgadveṣābhāve sukhaduḥkhaśūnyaṃ śabdādiānam indriyajaya iti kecit.
4. Others think that there is a subjugation of the senses when there is no passion or aversion after the thinking of the various things is without pleasure or pain.
James Haughton Woods - 1914
Andere (kecit | nom pl) denken: „Es gibt eine Unterwerfung der Sinne (indriyajayaḥ | nom sg), wenn keine Begierde (rāga) oder Abneigung (dveṣa) vorhanden ist, nachdem das Denken an die verschiedenen Dinge wie Klänge usw. (śabdādiānām | gen pl) ohne Freude (sukha) oder Schmerz (duḥkha) leer (śūnyam | nom sg) ist.“ (iti).
cittaikāgryād apratipattir eveti jaigīṣavyaḥ.
5. Jaigisavya thinks that it is refusal to perceive [the various things beginning with sound] as a result of the mind-stuff's singleness-of-intent.
James Haughton Woods - 1914
Jaigisavya (jaigīṣavyaḥ | nom sg) meint: „Es ist eine Verweigerung der Wahrnehmung (apratipattiḥ | nom sg), die allein (eva | adv) aus der Einzelzielgerichtetheit des inneren Wahrnehmungsraumes (citta-ekāgryāt | abl sg) resultiert.“ (iti).
tataś ca paramā tv iyaṃ vaśyatā yac cittanirodhe niruddhānīndriyāṇi netarendriyajayavat prayatnakṛtam upāyāntaram apekṣante yogina iti. 2.55
And as a result of this, when [the yogin's] mind-stuff is restricted, the organs are restricted, [and] there is not as in the case of the subjugation of the other organs, any further need of means performed with effort. But this mastery which is this singleness-of-intent is the complete [mastery].
James Haughton Woods - 1914
„Und (ca) als Ergebnis davon (tataś), wenn [des Yogis] innerer Wahrnehmungsraum unterdrückt ist (citta-nirodhe | loc sg), sind die Organe unterdrückt (niruddhāni indriyāṇi | nom pl), [und] es gibt nicht (na), wie im Fall der Unterwerfung der anderen Organe (netara-indriyajayavat | acc sg), irgendeinen weiteren Bedarf (apekṣante | 3p pl pres act) an Mitteln (upāyāntaram | acc sg), die mit Anstrengung ausgeführt werden (prayatna-kṛtam | acc sg). Aber diese Meisterschaft, die diese Einzelzielgerichtetheit ist (iyam vaśyatā | nom sg), ist die vollkommene [Meisterschaft] (paramā | nom sg).“ (iti).
iti śrīpātāñjale sāṃkhyapravacane yogaśāstre śrīmadvyāsabhāṣye dvitīyaḥ sādhanapādaḥ 2.
So steht es (iti), in der ehrwürdigen (śrī) Abhandlung des Patañjali (pātāñjale | loc sg) über die Sāṃkhya-Lehre (sāṃkhya-pravacane | loc sg), im Yogalehrtext (yogaśāstre | loc sg), mit dem ehrwürdigen Kommentar (śrīmat-vyāsabhāṣye | loc sg) [von Vyāsa], das zweite Kapitel (dvitīyaḥ | nom sg), der Übungsteil (sādhanapādaḥ | nom sg) [Nummer] 2.
Vyāsa Bhāṣya Erläuterung
Da der Bhāṣya noch 4 weniger bedeutende Formen der Sinneskontrolle dargestellt, ergeben sich so insgesamt 5 Formen der Sinneskontrolle:
- Bei zurückgezogenen Sinnen, kommen die Sinne zur Ruhe, weil der Geist zur Ruhe kommt. Diese Form ist im Sūtra dargestellt. Sie ist die höchste Form. Konkret setze ich mich zur Meditation, schließe die Augen und dann wenn mein innerer Wahrnehmungsraum Ruhe findet, finden die Sinne mit ihm Ruhe.
- Mangel an Verlangen nach Sinnesobjekten wie Klang etc. Konkret könnte das ein stilles Treiben lassen der Sinne sein, die dabei an nichts anhaften.
- Sich an Sinnesobjekten erfreuen, solange sie nicht zerstreuend oder Unruhe stiftend sind. Konkret könnte ich auf einem Waldspaziergang den Vögeln lauschen und so eine Ruhe der Sinne finden.
- Mit Sinnesobjekten nach eigenem Wunsch und nicht nach dem Diktat der Sinne in Kontakt zu treten. Konkret könnte das bedeuten, dass ich dem Sinnesgenuss folge, jedoch kontrolliert. Beispielsweise mir feste Zeiten nehme, in denen ich meine Sinne mit Zerstreuung ablenke, während andere Zeiten mir Ruhe geben.
- Sich mit Sinnesobjekten zu beschäftigen, aber ohne Anhaftung oder Abneigung, ohne Glück oder Leid. Konkret könnte das bedeuten, dass ich zwar dem Sinnesgenuss folge, aber in mir gelöst bleibe von der Verhaftung daran.
Der Bhāṣya verweist auf einen Weisen namens Jaigīṣavya. Dieser vertritt die Ansicht, dass Sinneskontrolle nur die Nicht-Wahrnehmung von Objekten ist, die aus der Ein-Punkt-Haltung resultiert. Diese Beherrschung ist die Höchste. Wenn der Geist im Stillstand ist, sind die Sinne im Stillstand; im Gegensatz zu den anderen Formen der Sinneskontrolle müssen Yogins, die dies praktiziert haben, nicht nach weiteren Mitteln suchen.
Jaigīṣavya, wird im Aśvaghoṣa’s "Buddhacarita" erwähnt. Er ist eine Figur, die oft mit Weisheit und spiritueller Erkenntnis in Verbindung gebracht wird. "Buddhacarita" ist ein episches Gedicht über das Leben des Buddha, und es umfasst verschiedene Charaktere, die bedeutende philosophische und religiöse Ideen der Zeit darstellen. Jaigīṣavya ist folglich mit den Lehren des Buddhismus verbunden. Dies zeigt, erneut, wie an vielen anderen Stellen des Yoga Śāstra, die enge Verbindung bzw. Auseinandersetzung mit dem Buddhismus.
As a result of this [withdrawal] there is complete mastery of the organs.
James Haughton Woods - 1914
Daraus erfolgt eine vollkommene Unterwerfung der Sinnesorgane.
Paul Deussen - 1908
Therefrom is there complete subjection of the senses.
James R. Ballantyne - 1852
-
Cornelia Atzinger
at 26.01.2022Hallo Zusammen, hallo Ronald, ich bin etwas irritiert. Es heißt oben in der Eingangserklärung: 'Die dritte Stufe der spirituellen Praxis (sādhana) ist die Sinneskontrolle (pratyāhāra)'. Aber [...] Hallo Zusammen, hallo Ronald, ich bin etwas irritiert. Es heißt oben in der Eingangserklärung: 'Die dritte Stufe der spirituellen Praxis (sādhana) ist die Sinneskontrolle (pratyāhāra)'. Aber pratyāhāra ist doch eigentlich der fünfte Aspekt des Yogaweges. Hab ich etwas nicht verstanden? Ganz herzliche Grüße, Cornelia
-
Hallo Cornelia,
Sādhana ist die spirituelle Praxis. Sie umfasst: Āsana, Prāṇāyāma, Pratyāhāra, Dhārnā.
Ich hoffe das hilft Dir weiter.
Namaste und herzliche Grüße
[...] Hallo Cornelia,
Sādhana ist die spirituelle Praxis. Sie umfasst: Āsana, Prāṇāyāma, Pratyāhāra, Dhārnā.
Ich hoffe das hilft Dir weiter.
Namaste und herzliche Grüße
Ronald -
Cornelia Atzinger
at 27.01.2022Super, vielen Dank Ronald - verstanden.
Namaste, Cornelia Super, vielen Dank Ronald - verstanden.
Namaste, Cornelia
-
Messages and ratings